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Far Right Tales

Seit zwei Jahren beobachten wir in Deutschland, wie Verschwörungserzählungen und das Leugnen der Corona-­Pandemie einen Zuspruch erhalten, der das Ausmaß des zu Erwartenden bei Weitem übertroffen hat. „QAnon“ in den USA sowie „Querdenken“ in Deutschland haben nicht nur offengelegt, dass Verschwörungsideologien in gut vernetzten Strukturen verbreitet werden, sie haben uns auch einen Einblick gegeben in die Erzählmuster und die Strategien, mit denen Verschwörungsideolog*innen ihren Anspruch auf „Wahrheit“ verteidigen.

Ein Gespräch mit Erzählforscherin Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho über Verschwörungserzählungen und warum sie Sagen sind.­

[21.06.2021]
Timothée Charon: Guten Tag, Frau Dr. Wienker-Piepho. Vielleicht könnten Sie für mich und die Seminarteilnehmenden kurz erklären, wer Sie sind und was sie machen. 
Sabine Wienker-Piepho: Mein Gesamtfach hieß früher „Volkskunde“ und heißt heute an den meisten Universitäten „Kulturantropologie“. Sie können sich vorstellen, dass das mit dem schwierigen Begriff „Volk“ zusammenhängt. Diese Bezeichnung des Faches hat meines Erachtens nach der Außenwirkung unseres Faches sehr geschadet, weil niemand weiß, was man eigentlich studiert. Aber im Grunde hat das Fach zwei Säulen: Die eine Säule ist die sogenannte „materielle Volkskunde“, das ist, was man sich unter bemalten Bauerntruhen, Trachten und Ähnlichem vorstellt. Die zweite Säule ist die „geistige Volkskunde“ – auch eine blöde Einteilung, denn es hat ja auch etwas mit Geist zu tun, was die „Anderen“ machen. In der geistigen Volkskunde beschäftigen wir uns damit, was immateriell ist, was das Volk also gemacht hat, als es nicht schreiben oder lesen konnte. Die geistige Volkskunde heißt im Ausland „Folkloristik“ und erforscht mündliche Volksüberlieferungen. Das Fach floriert unter „folcloristics“ in den USA und in anderen Ländern enorm, nur in Deutschland liegt es platt, wegen der Nazivergangenheit. Ich bediene die Nische „Märchenforschung“. Wenn wir die mündliche Überlieferung einteilen in Kategorien – das müssen wir machen, sonst können wir nicht wissenschaftlich argumentieren – dann haben wir hauptsächlich Sagen und Märchen. Als vor fünf Jahren alle anfingen, von „Narrativ“ zu reden, ist mir aufgefallen, das Verschwörungstheorien nichts anderes sind als Sagen.
C: Wir sprechen heute über Verschwörungserzählungen in Hinblick auf die Corona-Demonstrationen und die Neue Rechte. Wie haben Sie aus ihrem Fach die letzten eineinhalb Jahre beobachtet?
W: Wir haben uns in der „Erzählforschung“, wie meine Branche in Deutschland genannt wird, Mühe gegeben, die Sache international zu sehen und über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen. Und das ist das Schöne an unserem Fach, dass es von Anfang an eben auch international angelegt war. Der Diskurs findet in englischer Sprache statt und da ich 14 Jahre lang an ausländischen Universitäten war, fällt mir das relativ leicht. Aber nun bin ich wieder in Deutschland und mache jetzt alles vom Schreibtisch aus. Ich kriege aktuell durch Corona nicht ganz so viel mit, aber natürlich ist durch die Pandemie dieser Diskurs – wenn man ihn überhaupt so nennen kann – wieder richtig losgelaufen.
C: Ich finde es spannend, dass Sie sagen, dass ihre Forschung in einer internationalen Forscher*innen­gemeinschaft funktioniert, weil gerade das letzte Jahr auch gezeigt hat, dass viele Verschwörungsideologien wie QAnon international kursieren. Viele Erzählungen, die wir in Deutschland finden, tauchen oft in den USA auf und umgekehrt.  Was unterscheidet überhaupt eine Sage von einem Märchen?
W: Eine Sage ist, wie das Märchen, eine mündlich überlieferte, eine gesagte Erzählung. Im Gegensatz zur Sage, die geglaubt werden will – sie ist die „fabula credibilis“ –, wird das Märchen nicht geglaubt werden. Das Märchen ist eine „fabula incredibilis“. Der Sage geht es um Wirklichkeit, dem Märchen geht es um Wahrheit. Das haben schon die Grimms gesagt, die sich schon schwer getan haben mit einer Definition. Die Sage ist historischer, das Märchen ist poetischer. Die Sage endet schlecht, das Märchen endet gut. 
C: Das heißt, wenn wir über Verschwörungserzählungen sprechen, dann müssen wir betonen, dass sie Sagen sind und keine Märchen.
W: Man kann bei Verschwörungserzählungen meines Erachtens nach nur von Sagen sprechen. Und zwar insofern als dass die Sagenmuster und auch manche Inhalte gleich sind. Hauptsächlich aber wegen des Glaubwürdigkeitsanspruchs, den ich eben zu skizzieren versucht habe. Und vielleicht auch, weil die Geschichten keine individuellen Geschichten sind, sondern sie unter Tausenden oder Millionen Individuen kursieren – wie einst die Sagen auch. Es muss also immer eine kollektive Erzählung sein, sonst ist es keine Sage. 

Wenn ich mir also zu Hause ein Märchen ausdenke, das ich meinem Kind erzähle, dann ist das keine Sage sondern etwas Anderes. Denn Sagen und Verschwörungs­geschichten sind beide auch Horrorgeschichten mit schlechtem Ende. Und es gibt noch einen vierten Grund, warum sie fast gleich sind. Weil Verschwörungsgeschichten, wie Sagen, überlieferungsverankert sind. Was man im Fall der Coronathematik an der bestimmten Subgattung der Sagen, der Pest-und Brunnenvergiftersagen, festmachen kann. Auch hier hat sich der Sagenbegriff zudem ein bisschen verändert. Im 19. und auch im 20. Jahrhundert hatte man Gespenstergeschichten, die wir Sagenforscher als „dämonologische Sagen“ bezeichnen, in die tausende von Sagensammlungen, die es weltweit gibt, noch gar nicht aufgenommen, weil es die Menschen noch nicht so interessierte. Das waren Ammengeschichten. Andererseits gibt es in heutigen Sagensammlungen kaum noch die andere Sorte, die sogenannten „historischen Sagen“: „Barbaraossa im Kyffhäuser“ oder der „Mäuseturm von Bingen“ und so weiter. Sie gehören im Gegensatz zu den eben gesagten Gespenstergeschichten à la Verschwörungstheorien wohl auch nicht mehr zum lebendigen Erzählgut, das ist schon Bildungsgut. 
C: Also sind die Geschichten, die wir kennen – „Impfen ist Gift“ oder „Chemtrails“ – eine Fortsetzung dieser Gruselgeschichten. Sie haben von Sagenmustern gesprochen, die bei Verschwörungserzählungen wiederzufinden sind. Wie kann ich mir das vorstellen?
W: Die Formalismen, also die Struktur und die Form, sind völlig gleich. Moderne Sagen fangen alle mit der Verifikation an: „Ein Freund eines Freundes hat mir erzählt…“ Man nennt sie deswegen auch „FOAF stories“ [Friend Of A Friend]. Historische Sagen fangen an mit einem Satz wie: „Es war einmal im Jahre soundso eine große Rattenplage in der Stadt Hameln“. Es kommen Zeit- und Ortsangabe oder Herkunft vor, und das ist bei Verschwörungserzählungen genau das Gleiche. Was ich auch unwahrscheinlich interessant finde, ist dass wenn man die Sagen verschriftlicht – Verschwörungsgeschichten werden ja in unglaublichen Mengen gedruckt und gesammelt – dann wird ungefähr ein Drittel des Textes dafür verwendet, die Glaubwürdigkeit auch im Hinblick auf die Massenmedien zu bekräftigen. Das ist in den alten und neuen Sagen sowie in Verschwörungsgeschichten der Fall.
C: Mir fällt auf, dass auch in denjenigen Medien, die wir als zuverlässig bewerten, sehr viel mehr darüber gesprochen wird, woher die Informationen stammen und dass mehr Verweise auf die Quellen für die Überprüfbarkeit angeführt werden.
W: Das ist kein Wunder im Fake-News-Zeitalter. 
C: Sie haben es gerade schon angesprochen: „Friend of a friend.“ Das heißt, Autor*innenschaft gibt es nicht. 
W: Genau, es gibt keine. Das macht die Sache schwer und leicht gleichzeitig. Volkserzählungen sind seit wir denken können anonym. Und das ist das wissenschaftliche Faszinosum daran. Wer hat die Geschichte erfunden und wo kommt sie her? Wer denkt sich so einen Wahnsinn aus? Bei der Verschwörungsgeschichte gibt kein Copyright, was natürlich auch gut ist. Man muss immer daran denken, dass die Brüder Grimm nicht gedichtet, sondern gesammelt und verschriftet haben. Heutige Wissenschaftler*innen aus aller Welt sammeln moderne Sagen und  Verschwörungserzählungen und pressen sie zwischen zwei Buchdeckel – damit sind sie weder die Urheber* innen noch die Autor*innen. 
C: Der Austausch von Geschichten findet heute hauptsächlich über das Internet statt. Viele der Verschwörungserzählungen kursieren im Nachrichtendienst Telegram, in dem es offene Kanäle gibt, die nicht mitgliederbegrenzt sind. Da hat man Kanäle mit zehn- bis hunderttausenden Mitgliedern, in denen dann wiederum Nachrichten hin- und hergeschickt werden, sodass es unmöglich ist, zurückzuverfolgen, woher die ursprüngliche Nachricht kommt. Auch verkürzt sich der Austausch immer mehr, irgendwann hat man nur noch Satzteile, Fragmente, einzelne Worte oder Bilder, die auftauchen und nur noch Verweise auf die eigentliche Erzählung sind. 
W: Da gibt es eine wichtige Parallele: Sagen und Märchen sind erst einmal sehr vielen Menschen bekannt. Es sind also kollektive Narrative. Erzählungen, die in bestimmten ethnischen Gruppen, Bildungsschichten oder Sagenlandschaften bekannt sind. Nur was bekannt ist, kann man parodieren. Nur was bekannt ist, kann man verdichten zu einer Karikatur oder zu einem einzigen Schlagwort. Wenn man einen Frosch sieht, dann reicht das, weil es den Froschkönig evoziert. Wenn Sie nur ein Bild von Trump zeigen, fangen alle an zu lachen. Es wird immer kürzer, auch die Schlüsselbegriffe, auf die sich eine Story verkürzt. Dieses Phänomen – wir sprechen von Schrumpfen – ist ein ganz alter Prozess. 
C: Man kann also nicht mehr von einer Sage sprechen, wenn nur noch einzelne Fragmente vorhanden sind.
W: Bei diesen kurzen Bruchstücken sprechen wir nicht mehr von Sagen, sondern von einem „Motiv“. Und wenn das Bruchstück noch kleiner ist, dann sagen wir auch „Motifem“, das ist kleinste denkbare Erzähleinheit, die aber immer noch narrativen Charakter haben muss. Die Gesamterzählung konstituiert dabei einen sogenannten „Typ“, der aus vielen Motiven besteht. Und über diesen allgemeinen Trend zur „Häppchenkultur“ und zur Verkürzung, haben wir gesprochen. Das Motiv ist auch zuletzt nicht mehr der Sprache, der Erzählung oder des Handlungsgerüstes bedürftig, sondern kann auch ein einzelnes Wort oder ein Bild sein. 
C: Könnte oder müsste man also eine Sage im modernen Zeitalter mit sozialen Medien und neuen Wegen der Verbreitung anders oder neu definieren?
W: Seit den Sechziger Jahren spricht man von „modern urban legends“. Wobei man heutzutage die Unterscheidung zwischen Stadt und Land nicht mehr machen kann, denn es sind ja keine Stadtsagen. Heute sagt man „contemporary legends“. Wichtig zu wissen ist dabei, ist das „legend“ im Englischen nicht „Legende“ heißt, sondern „Sage“. Das führt manchmal zu Missverständnissen. Die Textsorte „moderne Sage“ wurde in vielen Ländern der Erde gesammelt und veröffentlicht, in Deutschland von Rolf Wilhelm Brednich. Nach den Grimm-Märchen war „Die Spinne in der Yucca-Palme“ von Brednich der größte Erfolg einer volkskundlichen Sammlung. Brednichs fünf Paperbacks mit solchen Horrorgeschichten sind nach der Bibel und noch vor den Kinder- und Hausmärchen der Grimm-Brüder der größte Verkaufserfolg von Büchern in deutscher Sprache überhaupt.

Die präzise begriffliche Erfassung von Sagen ist angesichts der modernen Sagen nicht ganz leicht. Die Definitionsbemühungen weltweit sind nicht mehr zu überschauen. Insgesamt spielt das Merkmal „Mündlichkeit“ der Medien wegen nur eine untergeordnete Rolle. Das Wichtigste ist die „Glaubwürdigkeit“, sie ist im wissenschaftlichen Diskurs der zentrale Punkt. 
C: Eine Definition über die Mündlichkeit als zentrale Eigenschaft hat sich also verlagert, weil Kommunikation hauptsächlich über den Schriftverkehr erfolgt. Aber es braucht gar keine Verschriftlichung, um eine Sage zu erzählen.
W: Eben gerade nicht. Die Sage gehört wie auch Mythos, Schwank, Märchen, Witz, Volkslied und Gerücht zu den mündlich tradierten Gattungen. Wir sprechen aber auch von semiliterarischen Überlieferungsformen. Reine Mündlichkeit hat es wohl nie gegeben, sie war nur eine unter Erzählforscher*innen beliebte Fiktion.  Auch kann im Moment der Verschriftlichung das Verbot oder die Zensur besser greifen, bei Mündlichkeit und in der Kommunikation über moderne Medien ist Zensur sehr viel schwieriger.  
C: Gerade der Kampf um die Glaubwürdigkeit findet ja heute häufig nicht mehr gegen Zensur im Sinne des Verbotes statt, sondern wir beobachten einen Kampf um eine möglichst erfolgreiche Verbreitung eigener Inhalte in der Medienlandschaft. Es kann ja alles gesagt werden in zahlreichen alternativen Medienkanälen, die im Internet kursieren. Der Versuch, die eigenen Geschichten Menschen glaubhaft zu machen, funktioniert meist über Floskeln: „Einfach mal wertfrei anschauen“. Denn natürlich ist die Erzählung nicht wertfrei. 
W: Natürlich nicht. 
C: Spannend ist auch in der Kurzlebigkeit von Informa­tionsaustausch die Verknüpfung und das Weiterspinnen unterschiedlicher Sagen. Um ein Beispiel zu nennen: Durch Corona ist auch die „Chemtrail“-Verschwörung wieder großgeworden. Die Erzählung, dass Impfen Gift sei, wird verknüpft mit der Behauptung, dass die Regierung auch über die Luft Partikel versprühe, die die Bevölkerung vergiften sollen. Kann man auch in der traditionellen Sage diese Verknüpfungen und das Weiterspinnen von Geschichten beobachten?
W: Ja. Wir konnten immer schon beobachten, dass Motive und Geschichten, die eine Affinität zueinander haben, „kontaminieren“, wie wir in der Erzählforschung sagen. Ein schönes Beispiel ist der Froschkönig. Der hat einen Doppeltitel bei den Grimms, dort heißt er ­„Froschkönig oder der Arme Heinrich“, das weist darauf hin, das die Geschichte aus zwei Märchen besteht, die ineinander geflossen sind. Diesen Prozess haben wir bei der Mündlichkeit grundsätzlich immer. Ihr Beispiel zeigt das gut: Eine neue Geschichte baut auf eine alte auf und sie kontaminieren. So ent­stehen wahrscheinlich diese absurden Geschichten.

Aber genauso wie bei den Gespenstergeschichten werden wir nicht herauskriegen, wer sich so etwas ausdenkt, ob das jetzt ein Individuum ist oder ein Stammtisch oder ein Skatclub. Früher hat man die Idee gehabt, das entstehe von selbst, wie eine Pflanze – die Biologie des Erzählguts. So können wir uns das auch bei Sagen oder Verschwörungsnarrativen vorstellen. 
C: Das heißt, Epidemiesagen bauen immer aufeinander auf und schauen einander Erzählstränge ab?
W: Ganz genau. Jede neue Pestgeschichte baut auf einer alten Pestgeschichte auf, es kommt immer ein neues Detail dazu. Verschwörungserzählungen haben also ebenfalls Traditionen und Kontinuitäten: Auch früher schon hat man die sogenannte „Scapegoat“-Strategie verfolgt: Es musste immer ein Sündenbock angeprangert werden. 
C: Wir wissen nicht, wer diese Erzählungen ursprünglich initiiert hat. Aber dieser Anspruch auf Geglaubtwerden ist hochpolitisch, es herrscht ja ein Kampf gegen die Mehrheitsmeinung. 
W: Man wusste schon in der Antike, dass man Gerüchte gezielt lancieren kann. Das Gerücht ist sehr nah an der Sage dran. In Deutschland kann man mit dem Paragraph der üblen Nachrede jemanden verklagen. Man erzählt Sagen nicht um ihrer selbst Willen oder weil sie komisch sind, sondern auch aus anderen Gründen. Denken Sie zum Beispiel an Wilhem Tell: Im Jahre 1307 habe man sich im Kanton Uri – so berichtet Ägidius Tschudi in seiner 1555 erschienenen Schweizer Chronik – von einem ­gewissen Wilhelm Tell erzählt, der nach einer Auseinandersetzung mit dem kaiserlichen Landvogt Geßler einen ­Apfel vom Kopf seines Sohnes geschossen habe. Erst durch Schillers Drama wurde die Geschichte auch in Deutschland populär. Erzählt sie jetzt – und das ist hier die Frage – eine historische Tat oder ist sie ein Fantasieprodukt, gar eine gezielte Fälschung? Anders gefragt: Ist der Apfelschuss von Wilhelm Tell Fakt, Fiktion oder Fake? Wir wissen es nicht.
C: In so einem Fall gibt es eine Person, auf die man nicht die Geschichte, aber zumindest die erste wirkliche schriftliche Überlieferung zurückführen kann. Man kann die Paral­lele ziehen zum QAnon-Account: Ein angeblicher anonymer Mitarbeiter des engsten Kreises der Trump­regierung, verschickte in einem sozialen Netzwerk bestimmte, verschlüsselte Nachrichten, in denen er immer wieder Hinweise an seine Anhänger*innenschaft gab. Im Zuge dessen stellt sich allerdings die Frage, ob man in gewissen Situationen überhaupt noch von einer Sage sprechen kann. QAnon als erzählende Figur verbreitet Zahlen und Symbole, die zunächst von der Anhänger*innenschaft interpretiert werden müssen. Gibt es also Verschwörungserzählungen, die keine Sagen mehr sind, weil bestimmte Merkmale fehlen?
W: Nein, theoretisch nicht. Aber es gibt solche, die mehr, und solche, die weniger Übereinstimmungen haben. Zu den zehn bekanntesten Verschwörungstheorien – 9/11, die Chemtrails, Elvis Presley lebt, die vergifteten Pockendecken, die Protokolle der Weisen von Zion, die jüdische Weltverschwörung, die vielen Freimaurergeschichten, die Mondlandung und jetzt die Narrative zu den gezielten Coronainfektionen, zu Tests, zu Impfungen – gibt es längst Einzelfallanalysen, die sich mit Kontinuitäten, Parallelen und Unterschieden auseinandersetzen. 

Es gibt auch lange Traditionen christlich fundierter Sagen – wir sprechen dann in der deutschen Sprache von Legenden –, die Seuchen und Pandemien als Strafe Gottes interpretieren, das kennen wir auch von den Verschwörungsnarrativen. Und dann gibt es vor allem die Corona-Leugner*innen, die mit entsprechend „wahren“ Erzählungen die Katastrophe politisch instrumentalisieren. Das sind inhaltlich wie strukturell immer gleichzeitig Sagen und Verschwörungsnarrative.
C: Hier spielt also auch wieder die Balance zwischen Fakt und Fiktion eine wichtige Rolle. Dabei fällt besonders die Verwendung von Symbolen auf. Es finden sich auf den Demonstrationen eine fast unendliche Zahl an unterschiedlichen Symbolen, die mal mehr und mal weniger benutzt werden, um die Erzählungen zu untermauern oder damit zu verschärfen. Man findet viele Davidsterne, die auf das Weltjudentum und auf die Weltverschwörung aufmerksam machen sollen. Gleichzeitig findet man Judensterne, die die Selbstinszenierung als Opfer eines modernen Holocaust zelebrieren. Man findet USA- und Trumpflaggen, man findet Reichsflaggen. Es ist wirklich eine sehr wüste Mischung und da fragt man sich natürlich, inwiefern diese Symbole für die einzelnen Sagen und den ganzen Komplex wichtig sind? Wie stehen Sage und Symbol in Bezug zueinander?
W: Symbole werden ja auch sehr intensiv erforscht. Auch bei uns in der Erzählforschung sind die symbolischen Ansätze sehr populär. In Sagen und Verschwörungs­erzählungen sind sie gewissermaßen Paradoxa: Einerseits sind sie Verdichtungen von kollektiven Werten, von Erfahrungen und Normen, die alle verstehen. Andererseits – das ist das Paradoxe – sind sie von Geheimnissen und esoterischem Eingeweihtsein umgeben. Sie sind Sinnbild und Bedeutungsträger und bezeichnen irgendeine numinose, geheimnisumwitterte bedrohliche Vorstellung. Im Märchen spielen Symbole eine riesengroße Rolle, das gehört zur Kunstform. In der Sage, die als kunstlose Gattung gilt, sind Symbole eher selten. Die Sage hat keinen gehobenen Stil und keine subtile Sprache. Die Kunstform Symbol ist hier ganz außen und nicht in den Text eingebunden. Und da hat sie diesen geheimnisumwitterten Charakter: „Skull and Bones.“
C: Es geht gar nicht darum, in dem Symbol etwas Anderes zu erkennen als das Symbol selbst? 
W: Wenn Sie an die christlichen Symbole denken, wie das christliche Kreuz, das Auge Gottes, das flammende Herz der Maria, die Taube, und so weiter: Es hat ja auch mit Bildung zu tun, ein Symbol sofort zu verstehen. Wenn man 1000 Leute sieht, die alle das selbe T-Shirt anhaben und da ist ein „Q“ aufgedruckt, dann ist das kein Geheimsymbol mehr sondern eher eine Uniform.
C: Die meisten Symbole sind ja auch fest in einen anderen Kontext eingebunden. Gerade wenn sich Menschen einen gelben Stern auf ihre Kleidung nähen, dann möchten sie damit die eine Assoziation wecken. Man bedient die Verschwörungserzählung, man sagt: „Ich lebe in einer Diktatur und die böse Macht möchte mich unterdrücken“ – und setzt dabei das Symbol unmittelbar in seinen historischen Zusammenhang, den es bereits hat. 
W: Das Symbol kann auch Erkennungsmerkmal sein: Woran erkennt man Reptiloide? An ihren senkrechten Pupillen und daran, dass sie komisch riechen. Wenn man sich den Geruch beschreiben lässt, riechen sie nach Schwefel. Und wer hat früher in den Sagen so gerochen? Der Teufel. Daran konnte man ihn erkennen. An seinem Pferdefuß und an seinem Gestank. Was er für Pupillen hatte, kann ich jetzt nicht sagen. Das sind ganz deutliche Parallelen zu den alten Teufelssagen, das ist nichts Neues.
C: Und dann die Verknüpfung mit dem Politischen. Wenn man eine Reichs- oder eine USA-Flagge sieht, dann geht es ja vielmehr um eine politische Agenda, die nur nachrangig diese Verschwörungen wirklich glaubhaft zu machen versucht und sie als Vorwand benutzt, um die eigene politische Agenda voranzutreiben. Hierbei spielen auch die auftretenden Akteur*innen eine große Rolle. Wir haben schon darüber gesprochen, dass es in der Sage keine Urheber*innenschaft gibt. Aber gerade auf den Corona-Demonstrationen fällt immer wieder auf, dass es bestimmte Personen gibt, die leitende und verbreitende Funktionen übernehmen. Sie schreien ihre Erzählungen in Volksfeststimmung heraus und treten an verschiedenen Orten in Deutschland auf. Inwiefern kann man von einer Fortsetzung des traditionellen Marktplatzgeschehens sprechen? Gibt es Parallelen zum Wanderprediger oder zum Troubadour des Mittelalters?
W: Sie meinen die Überlieferungsträger*innen? Witzig, dass Sie ausgerechnet den „Troubadour“ als Stichwort ihrer Frage wählen! Denn wahrscheinlich wissen Sie nicht, dass es tatsächlich eine Gemeinschaft im Westfälischen gibt, die sich „Troubadour“ nennt und die genauso eso­terisch argumentiert wie die meisten Verschwörungstheoretiker*innen. Sie gehen davon aus, es habe ein einziges Urmärchen gegeben, aus dem sich dann die Millionen von Märchen entwickelt haben und das man rekonstruieren könne, wenn man nur genug in sich hineinhorche.

Warum sie den Namen „Troubadour“ gewählt haben? Ich habe darüber nachgedacht und dachte, das ist verkehrt, weil der Troubadour damals im 12. und 13. Jahrhundert bei Hofe eigentlich für Liebeslyrik zuständig war. Man kann sich allerdings vorstellen, dass er nebenher natürlich auch Gerüchte verbreitet hat. Sein großer Vorteil war, dass er von weit her kam, interessant war und Bescheid wusste, während die meisten Leute – vor allem Angestellte – das ganze Leben auf ihrer Burg saßen. Und tatsächlich nennen wir diese Wandergeschichten auch „migratory legends“, zu deutsch „Wandersagen“. Je sensationeller, desto besser!

Auf dem Marktplatz läuft das ein bisschen anders. Wir wissen es nicht wirklich genau, weil sie eher mündlich verlief. Wir können das nur aus indirekten Quellen rekonstruieren, was da abgegangen ist in diesen Kommunikationszentren, deswegen muss man da vorsichtig sein. Wir wissen aber, dass es immer schon gewisse Austausch-Kulturräume gegeben hat wie Marktplatz, Brunnen oder Kneipe.
C: Eine weitere Eigenschaft der Organisator*innen und Sprecher*innen auf den Demonstrationen ist auch das Eingeweihtsein. Nahezu jede Rede von Corona-Leugner*innen baut auf dieselbe Legitimation auf: „Ich kenne die Wahrheit… Man hat mich gefragt… Ich habe herausgefunden… Ich habe auch so gedacht wie ihr…“ Ist das Eingeweihtsein eine Eigenschaft der Wanderprediger*innen?
W: Ja, zumindest umgab man sich als „Verkünder“ gern mit dieser Aura. Das „Eingeweihtsein“ haben Sie ja schon in dem Wort „Esoterik“. Und auch in der Frage nach Inklusion und Exklusion von Zuhörer*innen. Wenn man sie nicht politisch instrumentalisiert, dann richten sich Sage sowie Verschwörungserzählung jedoch an keine bestimmte Zielgruppe. Es liegt in ihrem Wesen, eine möglichst große Gruppe zu erreichen. 
C: Gerade auch die Art und Weise, mit der über die Menschen gesprochen, die adressiert werden, ist in dem Zusammenhang interessant. Man beruft sich auf einen gemeinsamen „Deutschen“ Volksbegriff und auf Traditionen, die nationalistisch aufgeladen werden. Spielt das Bestärken des „Volksgeist“ auch für die deutsche Sagentradition eine Rolle?
W: Auf jeden Fall. Wenn man jetzt allerdings eine hieb- und stichfeste Untersuchung dazu machen möchte, dann hat man die schon angesprochen Schwierigkeiten. Das sind keine messbare Daten, das sind qualitative Interviews. Aber dass bestimmte Sagen aber die Liebe zum Vaterland festigen sollten, das sehen wir an den Sagensammlungen aus dem besonders nationalen 19. und 20. Jahrhundert. Und man sieht das auch an jenen aus den Sagensammlungen aus dem 1000-jährigen Reich. Nicht nur an der Ästhetik der äußeren Aufmachung, sondern auch an den Vorworten.

Darüber hinaus gibt es die sogenannten „ätiologischen Sagen“, die Entstehungs- und Herkunftssagen, die alle Nationen kennen. Es sind die großen die Schöpfungs- und Ursprungsmythen. Das ist gefährlich, denken Sie an die Geschichte über unsere herrlichen reinrassigen germanischen Vorfahren anhand der Atlantis-Sage: „Die wussten ja viel mehr als wir jetzt vielleicht, und das waren unsere Vorfahren!“ So ein Satz, kein halbes Jahr alt, klingt wie die mythologische Schule der Grimms, eine Kulturtheorie, die sich eigentlich schon um 1850 erledigt hatte...
C: Wir haben auch über die Horrorgeschichte und über Angst gesprochen. In vielen dieser Erzählungen hat man einen schnell ausgemachten Feind. Die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel, oder die jüdische Weltverschwörung. Sie haben gesagt, die Angst spricht das zentrale Grundgefühl der Sage an. Gerade antisemitische Erzählungen haben sich seit Jahrhunderten gehalten: Das zeigt insbesondere die Ritualmordlegende, die auch das zentrale Motiv bei QAnon darstellt.
W: Genau. Es gibt ja auch kein Happy End. Die Sage ist eine Warn-, Angst- und Schreckgeschichte, das Märchen bezeichnen wir als schöne Wunsch­erfüllungs-Geschichte. Verschwörungserzählungen warnen uns, und ob das nun Chemtrails, Viren oder Ritualmörder sind: Die Gestalt des Satan ist die große Konstante bis heute. Es hat ganze Volkskundekongresse gegeben, da ging es nur um den Ritualmord. Bei diesen Tagungen wurde komparatistisch angesetzt, es wurden die einzelnen Ethnien und Nationen und die einzelnen Ritualmorderzählungen der Sagen miteinander verglichen. Und dann wieder die Entstehungsfrage. Früher funktionierte die Distribution über sogenannte „Kolporteure“, die ihre Schundliteratur auf dem Nacken trugen und sie dann als Hausierer verkauften. Dabei nahmen sie ungeklärte Mordfälle auf, und dann ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt. Wahrscheinlich haben sie solche Ritualmordlegenden konstruiert, um Minderheiten zu diskreditieren und zu diskriminieren. Und so hat sich auch der Antisemitismus über Jahrhunderte hinweg perpetuiert.  
C: Es gibt kein Happy-Ending, es gibt festgelegte Feindbilder. Welche Rolle spielen dabei Moral und die Definition von „richtig“ und „falsch“ für Sagen wie für Verschwörungserzählungen?
W: Es geht nicht um richtig oder falsch und um gut oder böse, es geht um die Grundhaltung des Menschen bei diesen Verschwörungserzählungen. Das hat Michael Butter wunderbar formuliert: „Nichts ist, wie es scheint, alles ist geplant, nichts ist zufällig, alles ist miteinander verbunden.“ 
C: Also braucht die Verschwörungserzählung das schlechte Ende, um sich selbst zu erhalten. Denn in dem Moment, in dem das Ende gut ist, funktioniert der ganze Komplex nicht mehr. 
W: Richtig. Es ist sowieso ein interessantes Problem mit den Schlüssen. Das Märchen, das immer gut ausgeht. Haben sie schon einmal ein Märchen gehört, das nach der Hochzeit weitergeht? Es muss ein Open Ending sein, sonst geht es nicht weiter. 
C: Eine abschließende Frage: Ist es nicht unter Umständen problematisch, moderne Verschwörungserzählungen mit Sagen gleichzusetzen, gerade wenn sie mit erschreckend realen Folgen verbunden sind? Banalisieren wir das Problem einer radikalisierten Gruppe damit nicht?
W: Nur, wenn Sie den Begriff „Sage“ einfach gleichsetzen mit „Lüge“. Sagen bewegen sich aber wie Verschwörungs­erzählungen zwischen Fakt, Fiktion und Fake. Bis heute. Als reine Fiktion wurden Sagen dementsprechend nie wahr- und ernstgenommen. Als Fakt und Fake genießen sie aber gerade aktuell, durch Corona- und Impfgegner*innen oder durch QAnon und Trump, wieder höchste Aufmerksamkeit. Es täte gut, denke ich, wenn sich die Öffentlichkeit auf die uralten Wurzeln der Verschwörungsnarrative besinnen würde. Banalisierung bedeutet ja auch Entspannung und Relativierung, und vielleicht auch: Den Rechten den Wind aus den Segeln nehmen.